Bilder: R. Reuß
Im Schatten des Nagels
Top Magazin Neuss: Wie haben Sie rückblickend den Königsschuss erlebt?
Christoph Heusgen: Das war einer der aufregendsten Momente meines Lebens! Während des Schießens war ich sehr ruhig. Ich war gut vorbereitet und hatte in Karl-Peter Lux aus meinem Zug „Nur So“ einen großartigen Adjutanten, der mir gesagt hat, wo ich hin schießen soll, auch gerade beim entscheidenden Schuss. Aber als der Vogel dann fiel, sind bei mir unge-ahnte Emotionen frei geworden. Ich habe mehrere Minuten gebraucht, bevor ich mich wieder gefasst hatte. Das war für mich der wunderbarste Moment meines Lebens. Ich hatte mich zwar sehr gut vorbereitet, wie ich fand, aber hatte irgend-wie nicht damit gerechnet. Meine beiden Zugkameraden Karl-Theo Reinhart und Achim Goetz waren jeweils bei ihrem ersten Versuch nicht erfolgreich gewesen. Sie sind beim zweiten Anlauf König ge-worden. Ich hatte im Innersten damit gerechnet, dass es auch bei mir beim ersten Mal nicht funktionieren würde. Und als dann der Vogel doch fiel, wie gesagt, war das einfach unglaublich! Emotion pur,
wie ich es sonst noch nicht im Positiven erlebt habe.
War alles mit Ihrer Majestät vorher abgestimmt oder gab es eine Überraschung?
Nein. Also, das war für meine Frau klar. Spaßeshalber kann man sagen, das stand so im ungeschriebenen Ehevertrag. Und Ina hat damit gerechnet, dass ich irgendwann draufschieße, weil sie auch gemerkt hat, wie begeistert ich bin, wie wahnsinnig wichtig für mich dieses Schützenfest ist. Dann ist sie auch davon ausgegangen, dass ich dieses Mal draufhalte. Und sie hat sich, und das sieht man auch auf den Fotos, auch wirklich sehr, sehr gefreut. Es gab unglaublich viel Begeisterung. Wir hatten ja unseren 11-jährigen Sohn Moritz dabei, der übrigens viel nervöser war als ich, und er hat sich auch riesig gefreut. Auch meine älteren Kinder Térésa und Till-Jonas und meine Enkel Konstantin und Marie haben das Schießen im Live-stream miterlebt und sich gefreut.
Was war Ihre erste Amtshandlung?
Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich gesammelt hatte und die erste Amtshandlung vornehmen konnte. Das war die Ent-gegennahme des Glückwunsches durch den Präsidenten des Neusser Bürger-schützen-Vereins, meinen langjährigen Freund und Zugkameraden Martin Flecken. Dann bin ich zu meiner Frau und meinem Sohn gegangen, und wir haben uns umarmt. Danach folgte die sehr herzliche Gratulationscour mit dem Komitee und den Spitzen der Korps. Sehr früh habe ich mich auch bei meinem Adjutanten Karl-Peter bedankt, der mir immer wertvolle Tipps gegeben hat. Besonders den entscheidenden Tipp beim letzten Schuss: „Du musst in den Schatten unter dem Nagel schießen, dann fällt das Ding.“ Und genau das ist passiert. Das war die erste Amtshandlung: die Gratulationscour. Besonders emotional waren die Umarmungen mit den wunderbaren Freunden meines „Nur So“-Zuges. Diese Momente vergisst man nie. Man sieht es auch in den Fotos, als die Kameraden mich auf den Schultern tragen. Es gibt großartige Aufnahmen, die die pure Freude, die ich empfunden habe, einfangen. Dann steht man auf dem Podium und winkt. Wenn der Präsident die Königskette umhängt, ist das ein ganz besonderer Moment. Ab dem Zeitpunkt, als der Vogel fiel, gab es kein Zurück mehr. Das war damit mehr als klar.
Sie haben im vergangenen Jahr ein Buch veröffentlicht mit dem Titel “Führung und Verantwortung“. Dabei geht es im Allgemeinen über Angela Merkels Außenpolitik und Deutschlands künftige Rolle in der Welt. Sie schreiben ein Buch über die zukünftige Rolle des Schützenfestes in Neuss und der Gesellschaft.
Wie würde der Titel heißen?
Der Titel würde so lauten wie das Motto meines Königsjahres: „Gemeinsamkeit wahren.“ Ich bin überzeugt, dass man Schützenfest, sollte es nicht bereits existieren, unbedingt erfinden müsste. In einer Gesellschaft, die zunehmend polarisiert ist und in der die Menschen immer mehr auf sich und ihre eigenen Interessen fokussiert sind, ist es unerlässlich, Solidarität und Gemeinsamkeit zu fördern. Im Laufe des Jahres habe ich erlebt, wofür das Schützenfest wirklich steht: für diese Gemeinschaft, für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Die einzelnen Schützenzüge sowie die übergreifenden Initiativen der Korps und des Komitees demonstrieren eindrucksvoll, was durch Zusammenhalt erreicht werden kann. Diese Aktivitäten und der damit verbundene Gemeinschaftssinn sind für unsere Gesellschaft von unschätzbarem Wert.
Sie leben eigentlich in Berlin. Wie haben Sie dieses Jahr den Spagat zwischen der Hauptstadt an der Spree und der Schützen-hauptstadt am Rhein geschafft?
Ich habe mittlerweile eine Platinkarte der Deutschen Bahn und fahre regel-mäßig die Strecke Berlin-Neuss und zurück. Diese Bahnreisen sind mit allen Höhen und Tiefen verbunden – von Zügen, die exakt pünktlich sind, bis hin zu Verspätungen von über zwei Stunden. Diese Unwägbarkeiten muss man einkalkulieren. Es ist mir auch schon passiert, dass ich bei einer Ver-anstaltung, bei der ich eine wichtige Rolle spielen sollte, erst fünf Minuten vor Schluss ankam. Aber ansonsten läuft es immer gut. Ich fahre regelmäßig hin und her, und seit Mai hat sich dies intensiviert. In den letzten drei bis vier Wochen war ich jede Woche einmal hier, einmal sogar zweimal. Zu Fronleichnam. Ich wusste das vorher und daher ist es kein Problem. Ich fahre zudem gerne Zug, da ich während der Fahrt lesen und schreiben kann. Beruflich hat dies auch kaum gestört. Natürlich gibt es immer wieder Überschneidungen. Es gab einige Veranstaltungen im Laufe des Jahres, die ich nicht wahrnehmen konnte, weil ich beruflich bei der Münchner Sicherheitskonferenz eingespannt war und als ihr Vorsitzender nicht wegbleiben
konnte. Dennoch hoffe ich, dass die Schützen mir dies nachsehen und am Ende des Jahres sagen werden: „Also, der Christoph der Zweite war auch unter dem Jahr oft hier in Neuss und hat seine Rolle wahrgenommen.“
Und was für eine Rolle – Sie sollen auf Ihrem Krönungsball, morgens gegen vier Uhr das Mikrofon ergriffen haben und auf der Bühne der Musik-Band gesungen
haben.
Ja, das ist dieser einzigartige Ball. Wenn Sie meine Frau fragen, wird sie Ihnen ebenfalls sagen, dass der Krönungsball etwas ganz, ganz Besonderes war. Für
die Besucher mag er manchmal einige Länge haben, aber wir hatten viele Gäste, eine tolle Stimmung auch mit dem wunderbaren Reitersiegerpaar, und ich habe diesen Abend als König in vollen Zügen genossen. Als die Band im Foyer dann ein wenig schlapp machte, dachte ich: „Komm, jetzt singst du das Lied.“ Es ist das Lied, das ich seit meiner Kindheit singe und mit dem ich meine Kinder in den Schlaf wiege. Das Neusser Heimatlied von Hubert Derrez. Dieser Moment war einfach unvergesslich. Dieser Ball war für uns unvergesslich.
Wird es aufgrund Ihrer Person erhöhte Sicherheitsmaßnahmen an Schützenfest geben?
Nein, also das sehe ich überhaupt nicht so. Erhöhte Sicherheitsmaßnahmen gibt es immer nur, wenn Politiker, die einen Gefährdungsgrad haben, hier sind. Das war im letzten Jahr der NRW-Innenminister, das waren früher die Botschafter aus den USA, die Ehrengäste waren. Dann gibt es Sicherheitsmaßnahmen, aber meinetwegen nicht. Nein.
Hat Angela Merkel Ihnen eigentlich zum Schützenkönig gratuliert?
Also Angela Merkel stand mit dem Schützenfest auf Kriegsfuß, weil aus ihrem direkten Umfeld viele in Neuss engagiert waren. Da war Hermann Gröhe, Generalsekretär der CDU und später Gesundheitsminister. Dann auch Bildungsministerin Annette Schavan, die sehr an Neuss hängt und auch in diesem Jahr ihr Kommen zur Parade angekündigt hat. Und Johannes Geismann, Abteilungsleiter und Staatssekretär im Kanzleramt und Schütze und eben ich. Und wir waren an Schützenfest immer weg. Das hat sie schon gewurmt. Im Gedächtnis haften geblieben ist mir vor allem das Schützenfest 2013. Wegen einer akuten außenpolitischen Krise musste ich nach der Parade nach Berlin reisen. Als sich am Montagabend die Lage beruhigt zu haben schien, bin ich wieder nach Neuss geflogen, um zumindest den Dienstag noch mitzumachen. Aber ich hatte die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Die Kanzlerin rief an und fragte, wo ich sei. Als ich ihr wahrheitsgemäß antwortete, fragte sie: „Hört dieses -Schützenfest denn überhaupt nicht mehr auf?“ Zurück in Berlin bat sie mich in ihr Büro: „Herr Heusgen, eins will ich ihnen sagen, dass dieses Schützenfest fünf Tage dauert, ist nicht mehr zeitgemäß.“ Umso mehr hat es mich natürlich gefreut, als sie mir dann letztes Jahr nach dem Königsschuss per SMS gratulierte! Sie hatte letztendlich ihren Frieden mit unserem Heimatfest gemacht.
Was bedeutet Ihnen Heimat?
Ich zitiere gerne Helmut Kohl, der einmal gesagt hat: „Nur wer seine Heimat liebt, ist offen für Deutschland, Europa und die Welt.“ Ich glaube fest daran, dass es sehr wichtig ist, in seiner Heimat verwurzelt zu sein. Für die persönliche Zufriedenheit ist das essenziell, aber auch politisch war es für mich immer von großer Bedeutung. Hier spricht man mit Freunden und Bekannten der ersten Stunde und bekommt ein tiefes Ver-ständnis dafür, was die Menschen wirklich denken. Das Wichtigste ist einfach: Hier bin ich zuhause. Hier bin ich zur alten Münsterschule gegangen, die es leider nicht mehr gibt, ins Quirinus Gymnasium, in den Ruderverein. Im „Dom“ habe ich mein erstes Altbier getrunken. Diese glücklichen Zeiten be-deuten Heimat für mich. Mein Herz ging und geht auf, wenn ich sage: Das ist meine Heimat. Auch als Diplomat, mit Stationen in Bonn, Chicago, Paris, Brüssel, Berlin und New York, hatte ich immer dieses Gefühl der Heimat. Wenn man viel in der Welt herumkommt, wurzellos zu werden droht, braucht man ein Gefühl von Heimat. Für mich war Neuss immer diese Heimat. Dass ich jetzt in meiner Heimat auch Schützenkönig sein darf, hätte ich mir nie träumen lassen. Das ist etwas ganz Besonderes und setzt dem Ganzen auch im übertragenen Sinne die Krone auf. Ich sehe bei vielen Diplomatenkollegen, die keine solche Heimat haben, wie schwer das ist. Man braucht einen Ort, zu dem man im Ruhestand zurückkehren kann, einen Ort, wo Freunde sind, die einen immer auffangen. In kritischen Lebensphasen zu wissen, dass man Freunde hat, die fest zu einem stehen, gibt einem Kraft und Sicherheit.
Wir kommen jetzt zu Fragen, die Sie bitte sehr kurz beantworten:
Rhein oder Spree?
Das ist ja wohl eine rhetorische Frage, oder?
Alt oder Pils? Berliner Weiße?
Alt.
Zu Fuß oder Kutsche?
Es ist wunderbar, einmal mit der Kutsche zu fahren. Ansonsten liebe ich es über alles mit meinem Zug durch Neuss zu gehen. Ich meine, für mich ist Schützenfest, dieses Feiern mit dem Zug, dieses Feiern in der Stadt, dieses sich gehen lassen und dann durch die Stadt zu schlendern, irgendwo ein Bierchen trinken, Freunde treffen, das ist für mich Schützenfest.
Welcher Fußballverein?
Das werden Sie jetzt nicht glauben. Aber ich gehöre der Ge-neration an, die den Aufstieg des VfR Neuss bis in die zweithöchste Liga enthusiastisch mitverfolgt, aber auch seinen Abstieg bedauert hat. Und ich habe mich jetzt gefreut – dass wissen wahrscheinlich nicht viele Neusser – dass dieser VfR in diesem Jahr von der Kreisklasse C in die Kreisklasse B aufgestiegen ist. Also ich verfolge nach wie vor die Ergebnisse des VfR. Dann bin ich groß geworden in meiner Jugend mit Müller, Maier, Beckenbauer, und bin bis heute auch ein großer Fan des FC Bayern.
Frauen im Regiment?
Ich freue mich sehr darüber, dass der Neusser Bürger-Schützenverein mit großer Mehrheit beschlossen hat, dass Frauen nun Mitglieder werden können. Ich halte es für wichtig, dass wir Frauen auch formell ins Schützenleben einbinden, wobei sie ja schon immer nicht wegzudenkender wichtiger Bestandteil unseres wunderbaren Festes sind. Ich begrüße es, dass wir gemäß meines Mottos „Gemeinsamkeit wahren“ das Thema der Beteiligung von Frauen am Schützenfest fürs Erste einvernehmlich regeln konnten. Sie werden fragen, was ist mit dem Mitmarschieren? Ich bin grundsätzlich nicht dagegen! Wichtig ist für mich nur, dass eine entsprechende Entscheidung von einer breiten Mehrheit getragen wird. So weit sind wir noch nicht. Aber vielleicht kann meine zweijährige Tochter Leah in 16 Jahren auch mit mar-schieren, wenn sie das möchte. Wie komme ich dazu? Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie sehr das Schützenleben einem das Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit geben kann. Männer haben durch die Gründung eines Schützenzuges eine institu-tionalisierte Bindung an Neuss, aber Frauen haben diese Bindung manchmal nicht. Viele Frauen werden durch Heirat oder Partnerschaft mit einem Schützen Teil der wunderbaren Schützengemeinschaft oder sind Mitglieder einer der tollen Schützenfamilien. Aber es gibt auch Frauen, die das Schützenfest mögen, aber eben nicht diese Einbindung haben. An diese denke ich. Mein Töchterchen hebt jetzt schon bei „Kirmes, Kirmes“ ihre Ärmchen. Wenn sie mit 18 auf den Spuren ihres Vaters wandeln und marschieren möchte, warum nicht? Wobei ich nicht für gemischte Züge bin, sondern ich befürworte die Gründung eines Frauenkorps oder die Teilnahme von Frauen bei den Reitern oder der Artillerie, wie ich das in Gnadental erlebt habe, ganz unaufgeregt. Das ist meine persönliche Meinung zu diesem Thema.
Welche ist die schönste Uniform?
Die Sappeure gefallen mir sehr gut. Wenn diese in ihrer Phalanx-Aufstellung auf einen zumarschieren, macht das schon was her.
Welches ist Ihre Lieblingsveranstaltung „op die Daag“?
Natürlich wird die Parade in diesem Jahr an erster Stelle stehen. Aber mir gefällt sehr gut die Stimmung vor dem Zelt, wenn man Freunde trifft, die man Jahre nicht gesehen hat. Oder die Stimmung im Zelt beim Jägerball oder in der Stadthalle beim Ball meines tollen Korps, der Schützenlust. Das sind für mich die schönsten Momente.
Und „vör die Daag“?
Ich bin ein Freund der Ehrenabende. Also
des Oberstehrenabends und des Königs-ehrenabends. Wenn alle wieder zusammenkommen, sich alles neu sortiert und alle mit großen Kinderaugen in freudiger Erwartung auf das kommende Fest zusammenkommen. Das hat immer so etwas ganz Besonderes von freudiger Nervosität.
Wie sähe eine Welt ohne Schützenfest aus?
Ich habe das eben schon gesagt. Wenn man viel in der Welt herumkommt, braucht man dieses Gefühl von Heimat. Unbedingt. Für mich ist Neuss und dieses Fest immer Heimat. Und das brauche ich als Mensch. Ohne dieses Fest wäre das Leben nur halb so schön.
Wir bedanken uns bei Ihnen und wünschen Ihnen ein wundervolles Schützenfest mit einer einzigartigen Königsparade bei strahlendem Sonnenschein und bitte grüßen Sie ganz herzlich auch Ihre Majestät.
Beitragsbild: R. Reuß
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- Bildschirmfoto 2024-08-05 um 15.07.35: R. Reuß