Der Tag vör de Dag

Der Tag vör de Dag

Die Geschichte des Neusser Bürger-Schützen-Vereins und des Neusser Bürger-Schützenfestes beginnt nicht erst vor 200 Jahren. Bereits im November des Jahres 1415 schlossen sich die Schützengesellen der Stadt zur St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft zusammen. Diese Urkunde wird heute noch im Neusser Stadtarchiv auf der Oberstraße aufbewahrt. Die Schützenbrüder halfen bei der Wehrhaftigkeit und der Verteidigung der Stadt, sorgten sich um das Wohl ihrer Mitbrüder, unterstützten die Armen und sie trafen sich regelmäßig zu Schießübungen. Damals noch mit Armbrust, später dann mit Büchse und Gewehr. Regelmäßig jedes Jahr trafen sie sich zum Vogelschießen, bei dem ein Schützenkönig ermittelt wurde. Die Schützen feierten ihren König dann mit einem gemeinsamen großen Fest mit gutem Essen und vielen Getränken. Dieses Fest war aber – im Gegensatz zu den späteren Schützenfesten – nur für die Mitglieder der Schützenbruderschaft und einige wenige Gäste bestimmt.

Aus dieser St.-Sebastianus-Schützenbruderschaft entstand dann 1804 die Neusser Scheibenschützen-Gesellschaft, deren Mitglieder sich im sportlichen Schießen auf Schießscheiben übten. Im Jahre 1823 begann eine neue Traditionslinie im Neusser Schützenwesen. Die Neuordnung von alten Festen lag in der Luft. So hat sich im selben Jahr in Köln der erste Rosenmontagszug unter Leitung eines festordnenden Komitees formiert. 

Ein neuer Verein wurde gegründet, der das Schießen auf einen hölzernen Vogel in den Mittelpunkt stellte. Aus den Reihen der „Junggesellen-Sodalität“, einer katholischen Vereinigung, baten einige junge Männer Bürgermeister Anton Reuter um die „Genehmigung zur Gründung einer Vogelschützen–Gesellschaft“. Den jungen Vogelschützen ging es weniger um den Schießsport, sondern um ein Vogel-schießen, an dem auch ungeübte Schützen teilnehmen konnten. Und dieses Vogelschießen wollten sie mit einem großen, öffent-lichen Fest verbinden. Als Termin wählten sie einen der alten Neusser Krammarkt- und Kirmestermine: den Bartholomäustag am 24. August. Zwar hatte es schon früher Vogelschießen und Schützenfeste gegeben, aber die Idee, einen eigenständigen Verein für die Durchführung zu gründen, war neu. So schlug mit der Genehmigung der „Vogelschützen-Gesellschaft“ durch Bürgermeister Anton Josef Reuter am 7. August die Geburts-stunde des Neusser Bürger-Schützen-Vereins.

Als erstes Regiment am Schützenfest zogen etwa 100 Männer in den Abteilungen Grenadiere, Jäger und Füsiliere (dieses Korps ist irgendwann verloren gegangen) durch die Stadt. Der Bäckergeselle Christian Mildenberg schoss den ersten Vogel des neuen Vereins ab und wurde somit Schützenkönig. Sein Orden steht in diesem Jahr Pate für den 200-jährigen Jubiläumsorden des Vereins, der an jeden aktiven Schützen herausgegeben wird. Die „Bestimmungen“ über den Ablauf des Festes, der dem Antrag der Junggesellen beigefügt war, zeigen, dass Umzüge, Fahnenschwenken und ein Ball, also eine Tanzveranstaltung, auf dem Programm standen.

In dieser Zeit ist Neuss ein eher kleines, gemütliches Städtchen mit circa 6.800 Einwohnern. Landwirtschaft und Handwerks-betriebe prägen das Stadtbild. Langsam begann dann aber auch in Neuss eine neue Zeitrechnung. 1827 lief in der Wollspinnerei Thywissen die erste Dampfmaschine in Neuss an und zeigte den Übergang zur Industrialisierung des 19. Jahrhunderts an.

In den folgenden Jahren entwickelte sich das Vogelschießen zu einem großen Stadtfest, das auch im Umland sehr beliebt war. Neben dem „Schützenzug“, wie der Auftritt des Regiments mit den verschiedenen Schießwettbewerben genannt wurde, mit Konzerten und Tanzveranstaltungen gab es weitere Attraktionen: Schausteller und Kirmesbuden sowie am Montag ein Krammarkt mit Verkaufsständen boten den Besucherinnen und Besuchern vielfältige Unterhaltung.

Bereits in den ersten Jahren bildete sich ein fester Ablauf des Schützenfestes heraus, der bis heute seine Gültigkeit hat. Nach den Gründungskorps der Grenadiere und Jäger erweiterte sich das Regiment nach und nach um die Reiter (1828), die Sappeure (1830), die Edelknaben (1835), die Schützengilde (1850), die Artillerie (1854), die Schützenlust (1864) und schließlich die St. Hubertus-Schützengesellschaft (1899). Die Scheibenschützen–Gesellschaft nimmt seit 1920 mit einem eigenen Zug am Schützen-fest teil.

Schon im 19. Jahrhundert hatte es immer wieder Jahre gegeben, an denen kein Schützenfest stattfand. So fielen die Feste 1859, 1866, 1870 aus, weil Deutschland sich im Krieg befand. Und im 20. Jahrhundert sorgten die beiden Weltkriege für mehrjährige Unterbrechungen. Die erste große Unterbrechung in der langen Tradition erfolgte von 1913 bis 1919. Erst ab 1920 konnte wieder Schützenfest gefeiert werden. Die damalige belgische Besatzungs-macht wachte mit Einschränkungen über das Fest, das ja mit „Waffen“ stattfand.

Im Jahre 1923 stand das 100-jährige Bestehen des Neusser Bürger–Schützen-Vereins an, aber es war keine Zeit für große Feierlichkeiten. Die Folgen der Ruhrbesetzung 1923 gingen auch an Neuss nicht spurlos vorüber, ebenso wie die Inflation, die in ganz Deutschland dramatische Ausmaße annahm. An ein Schützen-fest war in diesem Jahr nicht zu denken. Doch 1927 holte man das ausgefallene Jubiläum nach, das viele Neuerungen mit sich brachte. So schrieb das Komitee einen Plakatwettbewerb aus, und wir alle kennen das damals ausgewählte Motiv, denn noch heute ziert der Entwurf von Severin Wasen mit den drei Vorreitern das Festplakat. Obwohl er „nur“ den zweiten Platz belegte, entschied sich das Komitee einstimmig für seinen Entwurf, da er die Stimmung und die Gefühle des Neusser Schützen-festes am besten einfing und vermittelte. Das 100–jährige Jubiläum wurde mit dem bis dahin größten Regiment von fast 1300 Schützen, angeführt von Oberst Quirin Beckers und seinem Adjutanten Jakob Spelter, ein voller Erfolg. Zahl-reiche Medien berichteten erstmals über das Fest. Und der amtierende Jubelkönig von 1927, Wilhelm Vreden, konnte erstmals die neue Königskette tragen, die Präsident Cornelius Thywissen anlässlich seines eigenen 25-jährigen Vorstandsjubiläums gestiftet hatte. Ergänzt wurde sie durch silberne Plaketten, die Neusser Familien und ehemalige Schützenkönige gestiftet hatten. Im nachgeholten Jubiläumsjahr schien nichts schief zu gehen, Schützenkönig wurde Hermann Schram – mit dem ersten Schuss! (Detailierte Darstellung im Artikel Das verschobene Jubiläum auf Seite 10 bis 16 in dieser Ausgabe)

Das Jahr 1933 markiert den Beginn einer dunklen Epoche, deren Ausgang wir alle kennen. Im Januar 1933 übernahmen die Na-tionalsozialisten die Macht, es folgten beispiellose Maßnahmen der Gleichschaltung und Auf-lösung demokratischer Strukturen. Auch der Neusser Bürger-Schützen–Verein war davon betroffen. Ein politischer Machtkampf zwischen Na-tionalsozialisten und Komitee trübte das sonst so heitere Fest.

Das erste Schützenfest nach dieser dunklen Zeit fand erst wieder 1948 statt. Der Vorstand hatte sich zwar schon 1945 wieder zusammengefunden, aber an die Durchführung eines Festes war nicht nur wegen der Verbote der britischen Besatzungsmacht, sondern auch wegen der schweren Zerstörungen durch den Krieg in Neuss nicht zu denken. Im Jahre 1947 fand der erste öffentliche Auftritt des Neusser Bürger–Schützen-Vereins mit einem Schweigemarsch vom Rathaus zum Quirinus-Münster statt. Die Währungsreform von 1948 brachte den lang ersehnten Aufschwung, der auch dem Neusser Bürger-Schützen-Verein zugute kam. Die Besatzungsmächte
gestatteten erstmals wieder ein größeres Fest, das sich allerdings auf zwei Tage beschränkte. Im Jahre 1952 normalisierte sich die Schützenfesttradition vollständig: Erstmals durften die Chargierten wieder Säbel und Degen tragen und die Armbrust wurde wieder gegen das Gewehr eingetauscht. Nach 30 Jahren, die von Krisen, Kriegen und politischen Unruhen geprägt waren, folgte nun eine lange Phase der Beständigkeit und des Wachstums.

1973 feierte der Bürger-Schützen-Verein sein 150-jähriges Bestehen. Anlässlich dieses Jubiläums schenkte die Stadt dem Verein das Schützenglockenspiel, das seit 1975 im Giebel des Vogthauses seinen Platz hat und die Bevölkerung zweimal täglich erfreut. In den folgenden Jahren wuchs die Zahl der Schützen und Schützenzüge stetig an. Immer wieder gab es kleine Änderungen im Programmablauf, so wurde beispielsweise 1987 die Gefallenenehrung auf dem Marktplatz auf den Samstagnachmittag um 17Uhr verlegt.

Im Jubiläumsjahr 1998 hatte das Regiment eine Stärke von über 6.000 Mann. Die Parade wurde in diesem und den folgenden Jahren vom WDR live im Fernsehen übertragen, was zur überregionalen Bekanntheit des Festes beitrug.

Im Jahr 2016 gründete der Neusser Bürger-Schützen-Verein eine gGmbH, um die Marke Schützenfest weiterzuentwickeln und die Finanzierung des Festes zu sichern.

2017 wählten die Schützen Martin Flecken zu ihrem Präsidenten, der dieses Amt auch im Jubiläumsjahr 2023 ausüben wird. Im Jahr 2020 musste das Schützenfest erneut abgesagt werden. Eigentlich sollte in diesem Jahr Bernd Herten erstmals als Oberst das Regiment führen, doch die Corona–Pandemie verhinderte dies. Es folgte ein weiteres Jahr ohne Schützenfest, in denen der Verein aber durch verschiedene Aktionen den Kontakt zu den Bürgern und Schützen der Stadt Neuss hielt. 

Das Schützenfest 2022 wurde nach der zweijährigen Zwangspause mit großer Begeisterung gefeiert. In den vergangenen zwei Jahren gab es aber auch strittige Themen, mit denen sich der Verein auseinandersetzen musste, wie zum Beispiel die Beitrags-erhöhung im Jahr 2022. Auch die Frage, ob Frauen Mitglied im Schützenverein werden können, wurde intensiv diskutiert. Im Anschluss an die Jahres-hauptversammlung 2022 hat der Verein daher eine Kommission ins Leben gerufen, die die Satzung des Vereins überarbeiten und modernisieren soll. 

Das Jahr 2023 steht im Zeichen des Jubiläums des Neusser Bürger-Schützen–Vereins, mit dem auch das Grenadierkorps und das Jägerkorps ihr 200–jähriges Bestehen feiern. Nach zwei Jahrhunderten kann der Verein auf eine abwechslungsreiche, lebendige und dennoch von Tradition und Beständigkeit geprägte Geschichte zurückblicken und ist aus der Neusser Stadtgeschichte und dem städtischen Leben nicht mehr wegzudenken. Herzlichen Glückwunsch zu diesem gelungenen Jubiläum! 

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  • Bild_2_1: Stadtarchiv Neuss