Volkssport im Reich der Mitte:

„Tischtennis ist in China ein Stück Kultur“

Für China ist Tischtennis Volkssport und internationaler Imageträger zugleich. Annähernd 100 Millionen Kinder und Erwachsene betreiben „Pingpang“, wie Tischtennis tatsächlich übersetzt auf Chinesisch heißt, in organisierter Form entweder in der Schule, Vereinen oder Firmenmannschaften. Hinzu kommen Abermillionen von Hobbyspielern an den zigtausenden von Platten in den großen Parks und an vielen anderen öffentlichen Plätzen. Die Allerbesten gewinnen nach einem jahrelangen und beispiellos harten Ausleseverfahren zur Ehre des Landes seit Jahrzehnten WM-Titel und olympische Goldmedaillen en masse. Im Profi-Bereich dominiert China das Tischtennis wie kein Land sonst irgendeine Sportart.

„Tischtennis“, erläutert Ralf Peerenboom aus der Leitung der Tischtennis-Abteilung des Regionalligisten TG Neuss, „Tischtennis ist in China ein Stück Kultur. Die Menschen dort wachsen mit diesem Sport auf.“

Peerenboom weiß viel über China und den Lieblingssport der einheimischen Bevölkerung zu berichten. Zum einen sammelte Peerenboom selbst bei einer Austauschreise der Deutschen Sporthochschule in Köln nach Shanghai unendlich viele Eindrücke, zum anderen vertieften die Berichte des langjährigen TG-Topspielers Ran Wei seine Einblicke in die Seele des chinesischen Nationalsports.

Ran gehört zu den vielen tausend Chinesen, die heimisches Tischtennis-Knowhow in die Welt buchstäblich exportieren. Nach vielversprechenden Anfängen war sein Potenzial letztlich zu früh ausgeschöpft, obwohl Ran bei chinesischen Meisterschaften einst bis ins Viertelfinale gekommen war. Für die letzten Schritte bis in die nationale Elite, die gleichbedeutend mit der absoluten Weltspitze ist, reichte es letztlich nicht mehr, so dass Ran schließlich nach Deutschland auswanderte und nach mehreren Stationen bei anderen Vereinen schließlich bei der TG landete. Nicht zuletzt auch dank seiner nicht nur für deutsche Verhältnisse famosen Spielkunst sind die Neusser im westdeutschen Raum seit mehreren Jahren eine etablierte Größe. Erst zuletzt im Frühjahr zählten Ran und die TG-Schmetterkünstler außerdem zu den Attraktionen des Neusser China-Tages.

Was nur den wenigsten bekannt ist: Chinas Aufstieg zur Tischtennis-Weltmacht begann in Deutschland. Nachdem ein gewisser Rong Guotuan 1959 in Dortmund den ersten Weltmeister-Titel für die zehn Jahre zuvor gegründete Volksrepublik in einer Sportart überhaupt gewonnen hatte, erklärten Staatschef Mao Tse-Tung und seine Kommunistische Partei den aus Hongkong stammenden Matrosensohn zum Volkshelden und Tischtennis kurzerhand zum Volkssport. „Tischtennis war der erste Sport, über den Chinesen damals so etwas wie Selbstbestätigung fanden“, erklärt die in China geborene Damen-Bundestrainerin Jie Schöpp. 

Binnen kurzer Zeit schossen im Zuge des „vaterländischen Tischtennis-Feldzuges“, wie die Initiative von der Staatsspitze voller Pathos genannt wurde, überall im Riesenreich regelrechte Kaderschmieden aus dem Boden. Die systematische Schulung brachte den erhofften Erfolg: Chinas Tischtennis-Asse sammeln seit Jahrzehnten Triumphe am Fließband und gelten seit vielen Jahren auf WM-Titel und Olympia-Gold geradezu abonniert. 

Nach Lage der Dinge scheinen die Kräfteverhältnisse bis auf weiteres auch zementiert. Chinas Reservoir an Talenten ist angesichts seiner Riesenbevölkerung schier unerschöpflich, und die Ausbildungsmethoden aufgrund des autoritären Staatssystems für andere Länder nicht zu kopieren: Bereits Fünfjährige trainieren in den zahlreichen Nachwuchszentren des Landes bis zu fünfmal täglich mehrere Stunden, nur die besten und auch zähesten Talente schaffen es bis ganz nach oben. „Mit 13“, sagt Bundestrainer und Ex-Weltmeister Jörg Roßkopf über den regelrechten Drill, „hat ein Kind in China schon mehrere hundert Stunden mehr an der Tischtennis-Platte verbracht als bei uns. Dieser Vorsprung ist nicht mehr aufzuholen.“

An der Spitze kann man in China ausgesorgt haben. Olympiasieger und auch Weltmeister genießen in China eine Popularität wie in westlichen Gesellschaften nur Pop- und Hollywoodstars. Zweistellige Millionenverdienste sind für die „Besten der Besten“ keine Seltenheit. 

In ihrer Begeisterung verehren die Chinesen aber auch die stärksten Widersacher ihrer einheimischen Helden zutiefst: Deutschlands Topspieler Timo Boll, den mittlerweile schon die vierte Generation chinesischer Spitzenleute fürchten muss, wird bei seinen Reisen ins „Tischtennis-Paradies“ schon bei der Ankunft wie früher die Beatles oder die Teeny-Idole von „Take that“ von kreischenden Fans und auch Groupies empfangen. Auf Wegen außerhalb der Wettkampfhalle müssen den Starspieler von Borussia Düsseldorf regelmäßig mehrere Bodyguards begleiten, damit die Fans nicht zu aufdringlich werden können. Nicht von ungefähr ist Boll für Sponsoren viele Jahre schon eine der interessantesten Persönlichkeiten für den chinesischen Markt.

Aus den Hoffnungen vieler Eltern auf Ruhm und Reichtum für ihre Kinder durch eine Tischtennis-Laufbahn ist in China denn auch schon lange eine eigene Branche geworden. In zahllosen Tischtennis-Akademien mit Trainingshallen auf mehreren Geschossen schmettern Kinder und Jugendliche für den Traum von einer Welt-karriere und allen damit verbundenen Privilegien. Auch Ran Weis Familie betreibt in ihrem Heimatland eine solche Tischtennis-Schule.

Rans Tochter Roqi feilt aber in Neuss an einer Karriere. Unter der Führung von TG-Jugendtrainer und Ex-Mannschaftsmeister Karl-Heinz Walbaum hat sich die Neunjährige in ihrer Altersklasse schon zur Nummer eins im westdeutschen Raum und zur Nummer sieben in Deutschland hochgeschmettert. Zusammen mit dem großen Talent sind bei der TG noch weitere chinesischstämmige Nachwuchsspieler aktiv. Peerenboom verneint zwar eine spezielle Tischtennis-DNA bei „seinen“ Chinesen, betont aber einen aus seiner Sicht wichtigen Unterschied: „Sie sind im Training viel disziplinierter und ausdauernder.“                       

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