Interview mit Prof. Dr. Helena Wisbert:

Zukunft der Automobilwirtschaft in Deutschland

Das Interview führte Sebastian Ley.

Prof. Dr. Helena Wisbert ist Professorin für allgemeine BWL mit Schwerpunkt Automobilwirtschaft an der Ostfalia Hochschule in Wolfsburg. Im August 2022 wurde sie zudem als Direktorin des CAR – Center Automotive Research Instituts in Duisburg berufen, wo sie nun neben dem Gründer des Instituts, Prof. Dr. Ferdinand Dudenhöffer, wirkt. Der Lebenslauf der geborenen Neusserin ist wie geschrieben für diese Aufgaben: Nach einem BWL-Studium an der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität promovierte Wisbert an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder zu einem automobilwirtschaftlichen Thema. Danach ging sie in die Wirtschaft, und arbeitete mehrere Jahre im Volkswagen-Konzern: in der Zentrale in Wolfsburg und bei Skoda in Mlada Boleslav. 2018 wechselte sie in die Wissenschaft, mit einer BWL-Professur an der FOM Hochschule in Düsseldorf. In 2022 wurde sie an die Ostfalia Hochschule berufen.

Prof. Wisbert, Sie sind Expertin für den Automobilsektor. Direkt eine  provokante Frage: Wird es in dreißig Jahren noch Autos geben, wie wir sie heute kennen?

Ja, es wird noch Autos geben. Diese werden sich aber drastischer verändern als in den letzten 30 Jahren, da alternative Antriebe, die Digitalisierung des Fahrzeugs und das autonome Fahren ganz neue Aufbauarten und auch Fahrzeugkonzepte ermöglichen. 

Wie wird sich denn der Individualverkehr in den nächsten Jahren verändern? 

In Deutschland kommen auf 1000 Einwohner:Innen unabhängig vom fahrfähigen Alter 580 Pkws. Das zeigt die Bedeutung des Autos in Deutschland. In der Zukunft wird die Dominanz des Autos in der Individualmobilität jedoch abnehmen. Eine moderne Verkehrs- und öffentlichen Raumplanung führt jetzt zum Beispiel schon in den Städten zu einer langsamen Veränderung der Mobilität hin zu mehr Vielfalt der Verkehrsträger und ermöglicht überhaupt erst das Entstehen von wettbewerbsfähigen alternativen Mobilitätskonzepten. Wir sehen diese langsame Veränderung bereits in den Städten – so auch in Neuss. 

Werden Volkswagen, Mercedes, BMW und Co. irgendwann Drohnen für den Individualverkehr herstellen und vertreiben, oder werden das andere, neue Unternehmen tun?

BMW, Mercedes und Volkswagen haben gerade die Mammutaufgabe das Auto neu zu erfinden. Und dabei in doppelter Hinsicht von Seiten der Hardware und Software-Komponenten. Wenn man die Automobilindustrie mit anderen Branchen vergleicht, ist das einzigartig. Die Transformation des Autos ist ein vielfaches komplexer, als ob die Revolution des Uhrenmarktes durch die Quarzuhr und die des Handymarkts durch das Smartphone zusammenfallen würden.
Es werden neue Mobilitätsanbieter und Marken dazukommen und teilweise alte Player vom Markt verschwinden. Die Automobilhersteller in Deutschland haben dabei den großen Vorteil in die Neuausrichtung stark investieren zu können und mit einem breiten Netz an Zulieferern zusammen zu entwickeln. Die F&E-Tätigkeit gemessen an den weltweiten Patentanmeldungen fürs autonome Fahren und auch für die Elektrifizierung des Antriebsstranges von Seiten der deutschen Automobil- und Zulieferindustrie ist herausragend. 

Glauben Sie, dass Angebote rund um „mobility as a service (MaaS)“ zunehmen und den Besitz eigener Fahrzeuge künftig ersetzen? Und was bedeutet das für die Auto-mobilbranche?

(Anm. d. Red.: „Mobility as a Service“, also Mobilität als Service, sind Angebote, die das Vorhalten eigener Fahrzeuge ersetzen, durch bedarfsorientierte Angebote wie Car-Sharing, Bike-Sharing, Shuttle-Angebote und den öffentlichen Nah- und Fernverkehr).

Ja, ich gehe davon aus, dass der Besitz eines Fahrzeugs an Relevanz abnehmen wird, weil ganz einfach das Angebot vielfältiger wird. Ich kann heute als Kunde zum Beispiel Autoabos nutzen, die mit einem hohen Convenience-Faktor und einer hohen Flexibilität dem Leasingmodell das Wasser abgraben. In den Metropolen funktionieren darüber hinaus MaaS-Angebote wie Carsharing zumindest aus Kundensicht bereits. Jetzt muss nur auf Anbieterseite noch ein erfolgreiches Geschäftsmodell etabliert werden, das sich auch rechnet. Das hat bisher von Automobilherstellerseite noch nicht funktioniert, sowohl BMW, Mercedes und VW haben sich von ihren Carsharing-Unternehmen wieder getrennt. Neue Mobilitätsanbieter sind hier präsenter. Für die Automobilbranche bedeutet das, dass Automobilhersteller sich in Zukunft mehr als Mobilitätsdienstleister sehen werden und ihren Erfolg nicht mehr über die Stückzahlen an verkauften Fahrzeugen, sondern über die Vermarktung von Mobilitätseinheiten definieren werden.

Wenn man auf die Zusammensetzung der einzelnen Bestandteile eines Standard-Autos schaut, das heute von den Laufbändern rollt und in den Verkauf geht: Welche Rolle spielt der Software-Anteil am Gesamtprodukt, und wird die Bedeutung künftig weiter zunehmen?

In der Industrie wird mittlerweile von dem Software-defined-Car gesprochen, also das die Funktionalität des Fahrzeugs immer stärker von der Software im Auto bestimmt wird und sich auch im Nachhinein durch Updates noch aktualisieren bzw. erweitern lässt. Die Digitalisierung des Autos schreitet sehr schnell voran.  Zum Vergleich stecken heute im Auto 100 Millionen Programmzeilen (Lines of Code). Im Boeing 787 Dreamliner sind es „nur“ 14 Millionen Programmzeilen.

Wann wird es in Deutschland flächendeckend möglich sein, autonome Fahrzeuge auf Autobahnen und anderen Straßen zu nutzen?

Das Autonome Fahren hat verschiedene Abstufungen. Die Industrie rechnet bis 2030 mit der Markteinführung von autonomen Fahrfunktionen der oberen zwei Entwicklungsstufen. Von einer flächendeckenden Möglichkeit wird aber dann noch nicht die Rede sein können. 

Eine ganz aktuelle Frage: Wie sehen Sie die kurzfristige Zukunft der Autohersteller in den nächsten 12 bis 24 Monaten vor dem Hintergrund der weltweiten Lieferengpässe und der zunehmenden Inflation?

Die Auftragsbücher waren die letzten Monate noch voll, die Produktionsauslastung steigt jedoch bereits wieder, so dass der Puffer bald abgearbeitet sein wird und die Automobilhersteller wieder mit stärkeren Rabatten arbeiten müssen, um ihre Fahrzeuge in den Markt zu bekommen. Das geht zu Lasten der Gewinnmarge. 2023 wird daher ein herausforderndes Jahr für den Autoabsatz in Deutschland.

Das CAR-Institut hat neben Duisburg auch einen Sitz in Bejing (Peking). Können Sie unseren Lesern die Bedeutung von China für die Automobilbranche beschreiben?

Alleine von der Größe ist die Bedeutung des chinesischen Automarktes enorm. China ist mit über 20 Millionen verkauften Autos pro Jahr der weltgrößte Automobilmarkt. Die USA mit knapp 14 Mio. kommen weit dahinter auf Platz 2. China wächst im Gegensatz zu den USA auch noch. Dieses Jahr wahrscheinlich um 9% im Vergleich zum Vorjahr 2021. Darüber hinaus kommen die stärksten Wettbewerber für Elektrofahrzeuge mittlerweile aus China und bestimmen damit die Entwicklung mit. Der chinesische Automobilhersteller BYD ist der weltweit größte Automobilhersteller für Elektrofahrzeuge, wenn man Hybridfahrzeuge mitzählt und wächst sehr stark. 

Vielen Dank für das Interview!

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