Traktoren aus Neuss

Landmaschinen von International Harvester

Landmaschinen sind der Traum vieler Jungs. Heute sind die Maschinen, die in der Landwirtschaft eingesetzt werden, oft bereits hochmoderne, digital vernetzte Hochleistungsfahrzeuge, die von Firmen wie Claas aus Nordrhein-Westfalen oder
John Deere aus Illinois, USA, hergestellt werden. Ebenfalls in Illinois, genauer gesagt in Chicago, saß die Firma International Harvester (IHC). Wer heute danach sucht, wird schnell feststellen, dass es diese Firma nicht mehr gibt – und das bereits seit 1985 nicht mehr.

 

Warum das hier relevant ist? Ganz einfach: Die Traktoren von IHC wurden auch in Neuss produziert. Und das jahrzehntelang. Lassen Sie uns das Ganze einmal in eine zeitliche Perspektive rücken: Dabei hilft ein Blick in die große Schwesterstadt südlich den Rhein hinauf. Im Jahre 1926 startete die Montage des Ford T in Berlin, 1930 holte der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer die Firma nach Köln, wo 1931 die Produktion startete. Das ist jetzt 90 Jahre her. Für den Produktionsstart von IHC in Neuss muss der Historiker jedoch noch ein gutes Stück weiter zurückblicken, bis in die Kaiserzeit hinein. Schon 1908 (!) wurde mit der International Harvester Company m. b. H. eine deutsche Tochtergesellschaft gegründet (Sitz: in Neuss), 1911 wurden dann die ersten Maschinen gefertigt, allerdings noch keine Traktoren. Produziert wurden Heuwender, Heurechen, Düngerstreuer und Getreidemäher. 1914 wurde die Garnspinnerei fertig gestellt und der Verkauf von Bindegarn begann. 

Ein gutes Jahrzehnt später, so schreibt es der spätere (damals erst ein Jahr bei IHC angestellte) Willi Prinz in seinen Erinnerungen, wurde 1923 mit der Ruhrbesetzung die Arbeit eingestellt, so wie es überall im Rheinland der Fall war. Nur eine kleine Gruppe an Stammpersonal blieb erhalten, die sich um alles kümmerte, von Werkschutz bis Materialentladung. Der Hyperinflation musste auch bei IHC begegnet werden – mit „Materialhortung“, wie Willi Prinz schreibt, um der Geldentwertung zu entgehen. 

„Doch mit Ende der Ruhraktion im März des Jahres 1924 und mit der Umstellung des Geldes auf eine sogenannte Rentenmark war auch dieser Spuk vorbei und die Produktion konnte wieder beginnen“, berichtet Prinz. Prinz berichtet auch von Schwierigkeiten in der Konkurrenz etwa gegen die Düsseldorfer „Rheinmetall“, die nach dem Ersten Weltkrieg auf zivile Produktion umstellte und Personal abwarb.
Ab 1925, nachdem aus einem enteigneten Werk bei Moskau qualifizierte Arbeiter nach Neuss kamen (das Wort „international“ im Firmennamen passte hervorragend,
denn diese Arbeiter kamen aus den USA, aus Schweden und Norwegen), konnte IHC dann wieder durchstarten. Der Schaden, den eine Flutkatastrophe 1925 anrichtete, konnte dann auch überwunden werden. Prinz berichtet Spannendes: Denn bereits in dieser Zeit richtete er ein internes Vorschlagswesen mit Belohnungen ein, So versuchte er systematisch die Produktion zu verbessern. Ganz schön modern, die Neusser Landmaschinenproduktion von vor 100 Jahren. Ebenfalls wurde Mitte der Zwanziger ein Erfahrungsaustausch mit den Schwesterwerken in Frankreich und Schweden begonnen. Bei solch innovativen Ansätzen ist es klar, dass Willi Prinz auch von anfänglicher Skepsis unter der Belegschaft berichtet. Neben der Skepsis angesichts neuer Arbeitsmethoden gibt es auch kurios-politisches zu verzeichnen. So gaben die örtlichen Kommunisten ein Blatt mit dem Namen „Der Harvester-Prolet“ heraus.

Der Austausch mit dem Mutterkonzern 1930 intensiviert: Prinz besuchte den Stammsitz in den USA. Bei diesem Besuch wurde der Grundstein für die Produktion von Traktoren gelegt, der einige Jahre später begann. Doch zunächst musste die Weltwirtschaftskrise überwunden werden, 1932 wurde das Werk wieder stillgelegt.

Die Produktion von Traktoren startete dann 1937 (392 Stück waren es im ersten Jahr, 2.605 im Jahr des Kriegsausbruchs 1939), um erst 60 Jahre später in diesem Werk eingestellt zu werden. Zwischenzeitlich (fast parallel mit dem Umzug von Ford nach Köln) wurde 1927 der deutsche Hauptsitz der Firma in die Hauptstadt nach Berlin gelegt. Noch 1938 arbeitete Prinz in der internationalen Abteilung der IHC in Brüssel und plante von dort das Werk im englischen Doncaster. In seinen Erinnerungen schreibt er dann von einem abrupten Abbruch des internationalen Einsatzes im August 1938. Während des Zweiten Weltkriegs, den das Deutsche Reich unter Adolf Hitler ein Jahr später begann, arbeiteten auch Zwangsarbeiter bei IHC, bis zu 2800. Produziert wurden keine Traktoren mehr, sondern Rüstungsgüter. Eine Stele mit Gedenktafel erinnert seit 2011 an die Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter, die in Neuss eingesetzt wurden.  

Nach Ende des Zweiten Weltkrieg wurde dann 1946 Neuss wieder zum Sitz der Hauptverwaltung. Die Nachkriegszeit liest sich im erwähnten Bericht von Willi Prinz abenteuerlich, sie war, wie überall in Deutschland, von Entbehrungen und Improvisation geprägt. Die Firma blieb bestehen und war weiter ein bedeutender Arbeitgeber in Neuss: In den 1950er Jahren arbeiteten hier bis zu 5.000 Mitarbeiter!

Entscheidend für den wirtschaftlichen Erfolg von IHC war dann der Beginn der freien Marktwirtschaft mit der Währungsreform am 20. Juni 1948, der auch das Ende der Bewirtschaftungsmaßnahmen markierte. Prinz erinnert sich: „Plötzlich regte sich überall und auf jedem Gebiet die Konkurrenz, was ganz besonders auf unserem Sektor der Fall war.“ Er erklärt dies u. a. mit dem Wegfall der Absatzgebiete jenseits des Eisernen Vorhangs und berichtet dann von zahlreichen Innovationen, mit denen IHC in der freien Marktwirtschaft erfolgreich war: ein neuer Pferde-Mäher (sog. „Center Driver Mower“), erneuter Einstieg in den Traktormarkt (erfolgreich mit einem 4-Zylinder-Dieselmotor aus eigener Produktion), und dann die neue D-Linie (Traktoren mit 17 bis 39 PS), mit denen IHC an den zweiten Platz der deutschen Traktorenproduzenten aufstieg, nach der Firma Deutz aus dem benachbarten Köln. Entwickelt wurde weiter in Neuss, der Markt verlangte nach Innovationen. Und die Firma florierte: 1947, vor der Währungsreform, wurden 452 Traktoren produziert, die Traktorenproduktion steigerte sich bis 1966 auf über 33.000 Stück. Landmaschinen waren anfangs ein wichtiger Bestandteil der Produktion, die Bedeutung sank jedoch im Laufe der Jahre. Zudem wurde die Produktion ab Ende der 1950er Jahre nach Heidelberg ausgelagert. 

Werksgelände im Neusser Hafen

Willi Prinz beendet seinen Bericht, der mit der Verbindung von Zeitgeschichte und technischen Details einen spannenden Einblick in die Firmengeschichte bietet, mit einem fast pathetischen Satz (geschrieben im Jahr 1966): „Damit kann ich meinen Überblick über die Entwicklung der deutschen IH-Organisation beenden. Nach zwei Weltkriegen, mehrmaliger Inflation und einer fast vollständigen Zerstörung im Zweiten Weltkrieg ist sie heute wieder in der Lage, ihren Teil zu einem friedlichen und glücklichen Leben auf Erden beizutragen, denn im Atomzeitalter müssen schließlich alle Völker der Erde friedlich miteinander leben, wenn sie nicht gemeinsam untergehen wollen.“    

Die Entwicklung ging weiter: In 1973 rollte der 300.000ste Traktor-Schlepper vom Werk, 1978 bereits Nr. 400.000, 1983, kurz vor dem Verkauf der Firma, der 500.000ste. Ein wichtiges Ereignis vor Schließung des Werkes war der Verkauf der Landmaschinen-Produktion von IHC an die Firma Tenneco. Tenneco führte seine Tochter Case dann mit der IHC-Landmaschinen-Produktion zusammen, Case iH war dann der offizielle Name – im Neusser Volksmund ganz einfach dann „Case“. In den Jahren danach folgten Produktions-Verlagerungen (so nach Doncaster, UK), Stilllegungen und ein Umstrukturierungsprogramm in 1993. Das Ende markieren zwei „letzte“ Traktoren: 1996 wird der letzte echte IHC-Schlepper produziert (ein 1455 XL). Der letzte Neusser Traktor überhaupt folgt dann 1997, ein MAXXTRAC 5150, der heute im Landwirtschaftsmuseum des Rhein-Kreis Neuss in Sinsteden steht. Einmal im Jahr kann er ganz in der Nähe seines Geburtsortes bewundert werden: Dann zieht er Karneval den Wagen der Brauchtumsgruppe der Neusser Heimatfreunde, die auch den Nüsser Ovend organisieren.

Als 1997 die Fertigung eingestellt wurde, das Werk geschlossen wurde, lag das Gelände
brach. Gegenüber des UCI war dann nichts mehr zu sehen. Erst 2013 wurde die Fläche wiederverwertet – und das mit einer passenden Ansiedlung: Der Automobilzulieferer Pierburg hat dort ein neues Werk gebaut, das Werk „Niederrhein“. Insofern wird der Standort nun wieder „angemessen genutzt“.

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